
Ein Panje-Pferdchen zieht den Schlitten durch den verschneiten Wald – nur der Klang der Glöckchen fehlt, sonst wäre die Illusion der St. Petersburger Schlittenfahrt perfekt. Aber auch so merkt man: wir sind weit im Norden, nur gut 300 km westlich von St. Petersburg: die nun kahlen Birken mit ihren weiß-gesprenkelten Stämmen, die dunklen Kiefern, vereinzelt ein Wacholder – das ist die Landschaft Estlands. Der Schlitten zieht uns die verschneiten Wege durch den Nationalpark Lahemaa hin zu einem der vereinzelten Gutshöfe. Man kann sich sichtlich vorstellen, wie hier an den langen Winterabenden zum Ball eingeladen wurde, wie man manchmal auch den verschneiten Weg von Tallinn nach St. Petersburg durch einen gefällten Baum sperrte, um dann gespannt zu warten, welche Gäste das wohl ins Gut bringen würde… Nach einer wechselvollen Geschichte sind eine Reihe alter Guts- und Herrenhäuser heute schön renoviert, bilden eine Facette der jahrhundertealten Geschichte Estlands, das nur 20 Jahre lang zu Beginn des 20. Jahrhunderts und dann ab 1991 seine Unabhängigkeit hatte.

Im 13. Jahrhundert waren die Esten „mit dem Schwert missioniert“ worden, entstanden Hansestädte, Bistümer und Burgen – die später den Grundstein eben jener Herrenhäuser bilden sollten, nachdem aus den Rittern des Schwertritterordens protestantische Barone geworden waren. Diese deutsche Oberschicht schaffte es – gemeinsam mit den ursprünglich zur Hanse gehörenden Kaufleuten der wenigen Städte – in all den Wirren der Jahrhunderte, des Livländischen Kriegs, des Nordischen Kriegs, schließlich der jahrhundertelangen russischen Herrschaft, ihre Bedeutung und in Maßen ihre Unabhängigkeit zu bewahren. Erst die russische Revolution, die Selbständigkeit der ersten estnischen Republik, die Wirren des Zweiten Weltkriegs und schließlich der Stalinismus sorgten dafür, dass das Deutschtum heute nur noch museal bewundert werden kann. Die baltischen Adelsfamilien sind in verschiedenen Phasen ausgewandert – kommen aber heute gerne wieder zu Besuch, um das Land der Väter kennen- und liebenzulernen – heute eine ganz offensichtlich unproblematische Symbiose.

Die Ländereien waren erstaunlich groß – eine Karte des Guts Palmse im dortigen Arbeitszimmer des „Moisnik“ von der Pahlen belegt das: viel Wald, Teiche, die Meeresküste, einzelne Felder– dazu Dörfer, meist mit estnischer Bevölkerung. Ein patriachalisches Leben, damals weit ab von der Stadt, aber auch mit „Ausflügen“ bis St. Petersburg, zum Beispiel, um den selbstgebrannten Wodka zu verkaufen. Man sprach deutsch, französisch, russisch – und estnisch: denn die zahlreichen Kinder der Gutsherren wuchsen bei estnischen „Nannies“ auf, tobten in der Küche herum, spielten mit der Dorfjugend, heirateten dann aber standesgemäß. Hier hätte Downton Abbey spielen können, im etwas kleineren Maßstab. Es war wohl wie so oft: wenn es gut lief, war es eine Idylle, wenn nicht eine Tragödie – man saß gemeinsam auf einer „Insel“, auch wenn der nächste Gutshof gerade einmal 6 km entfernt lag, aber da sah es genauso aus.

Heute ist es ein Traum – im Sommer wie im Winter: prasselnde Holzfeuer, eine exzellente Küche, die schön dekorierten Räumlichkeiten der Schlösser, wohl heute schöner als sie damals je waren. Draußen ist es kalt, durchaus ‑20°C, dazu ein frostiger Ostwind, aber gut eingehüllt ist es ein Vergnügen, die Gegend per Ski, Schneeschuhen oder Pferdeschlitten zu erkunden, im Sommer kommt Radfahren und Wandern und das Baden in den einsamen Buchten dazu. Und für denjenigen, dem es danach noch nach Aufwärmen zumute ist, steht natürlich eine Sauna und eine vielfältige Spa-Landschaft zur Verfügung. Die Esten wissen schon zu leben.
Überhaupt: Estland. Mit seinen gut 1,2 Millionen Einwohnern nehmen wir Estland kaum wahr – aber es ist ein Vorzeige-EU-Land, seit es 1991 schaffte, ohne Blutvergiessen seine Selbständigkeit zu erhalten. Heute ist es Mitglied der Nato und der EU, gilt als ein Land, das es versteht, Moderne und Tradition zu verknüpfen. Kein anderes Land der EU setzt so konsequent auf IT – bei der Verwaltung, bei Wahlen und natürlich im Alltag: Wifi ist selbstverständlich.

Andererseits hat das Land mit den Gutshöfen, mit der alten Universitätsstadt Tartu/Dorpat und natürlich der Hauptstadt Tallinn/Reval ein historisches Erbe, das sich sehen lassen kann. Wo finden Sie heute noch eine intakte Stadtmauer mit 2 km Länge und 19 Türmen (vielleicht gerade noch im viel kleineren Rothenburg). Man schlendert über den Rathausplatz mit seinem Rathaus, kehrt kurz in der historischen Apotheke ein, bevor es durch einen kleinen Gang zur Heilig-Geist-Kirche und zum Schwarzhäupter Haus in der Pikk genannten Gasse geht. Beinahe unübersehbar die Zahl der Kaufmannshäuser mit ihren hohen Erdgeschossen und den Kränen im Giebel, mit denen die Waren in die oberen Stockwerke gebracht wurden. Das Kopfsteinpflaster ist obligatorisch, dazwischen immer wieder kleine Restaurants und Bars, die insbesondere am Freitag- und Samstagabend voller meist junger Leute sind. Im Sommer kommen (leider) viele Tagesausflügler von den Kreuzfahrt-Schiffen dazu, die im nahen Hafen festmachen – jetzt im Winter ist Tallinn viel estnischer.

Oberhalb der Stadt liegt der Burgberg, heute Regierungsviertel, einst Sitz des Generalgouverneurs – hier hatten auch die Gutsherren ihre Stadthäuser, deutlich stattlicher als die Kaufmannshäuser in der Stadt. Und hier steht auch die Domkirche, in der die Adelswappen der Barone hängen. Sie wurden einst aufwendig geschnitzt, um im Trauerzug vorneweg getragen zu werden. Namen, von denen uns einige bekannt sind, die in der russischen Geschichte eine größere Rolle spielen – Erinnerungen an eine Reise mit Prof. Dr. Dethard von Winterfeld vor anderthalb Jahren werden wach: seine Mutter stammte aus dem Baltikum, für ihn war es Teil der weitverzweigten Familiengeschichte, an der er uns teilhaben ließ. Unweit davon – gleich neben der wunderschönen, recht bescheiden wirkenden Deutschen Botschaft hat Zar Alexander III sein Programm zu Stein werden lassen: in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wollte er das Baltikum russifizieren, ließ die Alexander-Newskij-Kathedrale bauen. Alexander Newskij hatte am gar nicht weit entfernten Peipus-See im 14. Jahrhundert den Vormarsch der Ordensritter gestoppt und damit eine Grenze definiert, die Jahrhunderte Bestand hatte und nach den langen russischen Jahren Estlands heute Russland und die EU trennt.
Tradition und Moderne — dazu gehört auch das Sängerfest, zu dem sich fast 100.000 Besucher in Tallinn alle fünf Jahre treffen. Mit den alten Liedern hat sich Estland in die Freiheit gesungen, die Trachten werden herausgeholt und getragen. Und jeder Este erzählt begeistert von seinem Bauernhof, auf den er sich gerne zurückzieht.