
MAY steht auf dem Flugzeug, das uns in den Kaukasus bringen soll – dabei ist es Juni, und in diesem Jahr außergewöhnlich warm. Gut dass es beim Umsteigen in Kiev ein – übrigens recht gutes – Bier zur Abkühlung gibt. Der Vorteil des kleinen Umwegs: wir landen zu einer „christlichen“ Zeit in der Hauptstadt des ältesten christlichen Königreichs, um Mitternacht Ortszeit in Yerevan. Bei einem Zeitunterschied von zwei Stunden sind wir daher noch vor unserer gefühlten Mitternacht im Hotel. Der erste Eindruck: Yerevan ist um diese Zeit noch recht munter, viele junge Leute sind noch unterwegs. Und der kleine Supermarkt gleich um die Ecke unseres Hotels erlaubt es noch, sich mit armenischem Geld und mit Wasser (oder die, die es wollen, einem Digestiv) einzudecken. Ein guter Start.

Yerevan – das erinnert zunächst an die berühmten „Fragen an Radio Eriwan“ – Sie wissen schon: „Im Prinzip ja, aber…“ und dann kam die listenreich formulierte Kritik am Alltagsleben in der damaligen Sowjetunion. Armenien war damals Teil des Sowjetischen Empire, als „selbständige“ Sowjetrepublik. Das Schicksal eines Volks, das eigentlich immer zwischen den Stühlen saß. Lange Zeit geteilt zwischen dem Sassanidenreich der Perser, die – wie es heißt – die Armenier als Handwerker und Händler sehr schätzten. Die Armenier selbst sehen das etwas skeptischer: die Armenier, die Isfahan maßgeblich aufbauten, waren dorthin befohlen worden, man könnte auch sagen, verschleppt worden. Immerhin: Sie durften – anders als viele Georgier – ihren Glauben bewahren. Die Vank(-Kathedrale) in Isfahan ist jedenfalls ein beredtes Zeugnis davon. Und dem Reich der Osmanen, die es verstanden, die Kurden und Armenier gegen einander auszuspielen. Das Ende der Armenier dort geschah dann ab 1915. Zu diesem Zeitpunkt hatte Russland schon das nördliche Armenien von Persien übernommen und verstand sich als Schutzmacht des äussersten christlichen Vorpostens, den es an der Kaukasusfront des Ersten Weltkriegs gegen die Türken zu verteidigen, ja möglichst auszubauen galt. Im türkischen Hinterland führte dies zu den bekannten Massenvertreibungen und Pogromen, die etwa eine Million Armenier das Leben kostete. In einer beeindruckenden Gedenkstätte in Yerevan mit einem bedrückenden Museum wird ihrer gedacht. Es werden Erinnerungen an eine Syrien-Reise wach – im dortigen Deir ez Zor endete für viele Armenier der Leidensweg in einem der dortigen Konzentrationslager, soweit sie überhaupt so weit kamen.

Die Geschichte prägt die Armenier, die inzwischen seit 1991 in einem eigenen Staat leben, zutiefst: viele Armenier leben im Ausland – sie finanzieren das arme Land, das abgeschnitten im Kaukasus liegt. Mit den islamischen Nachbarn Türkei und Azerbaidjan liegt man im Clinch – die Grenze zur Türkei ist dicht, wird mit russischer Hilfe gesichert. Der Ararat, der „heilige“ Berg Armeniens, liegt in der Türkei, die sich übrigens darüber echauffierte, dass „ihr“ Berg Ararat im Staatswappen Armeniens dargestellt wird (der sowjetische Aussenminister Gromyko soll damals seinen türkischen Gesprächspartnern gesagt haben, die Türkei habe ja auch den Mond im Wappen, obwohl der bekanntlich nicht in der Türkei läge). Mit Azerbaidjan befindet sich Armenien im Kriegszustand um die Region Berg Karabach, bei dessen Aufflackern 2016 es zahlreiche Tote durch Artillerieduelle gab. Eine der Regionen, in denen sich Stalins „Divide et Impera“ langfristig manifestierte: das Zuschlagen kleinerer Regionen zu ethnisch „falschen“ Sowjetrepubliken (auf ein anderes Beispiel: Transnistrien, wird an anderer Stelle einzugehen sein) und Bevölkerungsverschiebungen („Russifizierung“, wie zum Beispiel im Baltikum). Nicht dass der Eindruck entstehe, eine Reise nach Armenien sei gefährlich – Berg Karabach ist typischerweise kein Teil der Reiseroute, obwohl es landschaftlich sehr schön sein soll. Aber man merkt in den Gesprächen vor Ort, dass das Thema den Menschen wichtig ist, dass die Söhne vieler Familien dort gefallen oder verwundet wurden. Und dass die armenischen Truppen schlecht versorgt in diese Auseinandersetzung gegangen seien – ein Punkt, der direkt auf die gerade erfolgten politischen Veränderungen verweist.
Wenige Wochen vor unserer Reise war Armenien plötzlich in den Schlagzeilen: Demonstrationen, ein spektakulärer Rücktritt des Ministerpräsidenten – und dann: kein Blutvergiessen, statt dessen: Musik und Tanz auf Yerevans Strassen: eine „samtene“ Revolution, die in die Ernennung des Oppositionsführers zum Ministerpräsidenten mündete, an den sich nun hohe Erwartungen richten. Armenien teilt mit ähnlichen Ländern das Problem der Korruption – und so fanden sich bei der dann erfolgten Konfiskation im Haus des vormaligen Kriegsministers zahlreiche Ausrüstungsgegenstände und Munition, die in Berg Karabach fehlten. Man darf gespannt sein, wie Armenien die Aufarbeitung der letzten Regierungsjahre anpacken wird und wie die nächsten nationalen Wahlen ausgehen werden. Das Land ist jedenfalls voller Hoffnung.

Yerevan wirkt für sein Alter – 2.800 Jahre – sehr modern. Viel Bausubstanz stammt aus sowjetischer Zeit. Frühere Erdbeben haben dazu geführt, dass man mit breiten Boulevards wieder aufgebaut hat. Dazwischen erstaunlich viel moderne Kunst – Stiftungen von Auslandsarmeniern. Im Nationalmuseum wird dann aber schnell klar: hier ist uraltes Kulturland, Teil der frühen menschlichen Entwicklung im „Fruchtbaren Halbmond“. Das Königreich Urartu sticht mit beeindruckenden Funden hervor. Übrigens: eines der zahlreichen Beispiele exzellenter Führungen auf Deutsch. Im Matenadaran-Museum lernen wir dann die schriftlichen Zeugnisse armenischer Kultur kennen. Nicht einfach zu entziffern, haben doch die Armenier (wie ihre Nachbarn in Georgien) eine eigene Schrift entwickelt. Die Manuskripte des Museums sind einzigartig, man kann sich vom Betrachten gar nicht losreissen. Für mich besonders nett: die roten Backen von Maria und den Aposteln. Nur das Besorgen von Postkarten erweist sich als nicht einfach – glücklicherweise hat unser Guide vorgesorgt. Am Abend dann Wasserspiele auf dem Platz der Republik, begleitet von armenischer Musik. Diese Musik und die dazugehörigen Tänze sehen wir uns dann auch am Abend in einem kleinen Theater in der Nähe des Hotels an. Die Tänzerinnen in ihren traditionellen Gewändern erinnern an die Darstellungen der Festlichkeiten im Vierzig-Säulen-Palast in Isfahan. Und spätestens bei Katschaturians Säbeltanz wird es richtig akrobatisch.

Die Kirche Armeniens führt sich auf den Apostel Thaddäus zurück, bezeichnet sich daher als Armenisch Apostolische Kirche. Sie gehört nicht zur Orthodoxen Welt, sondern ist eine altorientalische Kirche wie die Kopten, die Äthiopier, die Nestorianer, die sich vom Rest der christlichen Welt bereits 451 im Konzil von Chalkedon trennten. Ihr Oberhaupt, den Katholikos, erleben wir in seiner Kathedrale in Etschmiadzin am Sonntag: ein Gottesdienst mit hervorragender Kirchenmusik, prachtvollen Gewändern, viel Weihrauch – in einer leider derzeit in Renovierung befindlichen Kathedrale. Ganz in der Nähe, in Swartnoz, gleich beim Flughafen, befindet sich der Vorgängerbau aus der Antike: die Ruine eines Rundbaus beachtlicher Größe – es muss einst eine architektonische Meisterleistung gewesen sein.
Die Armenisch Apostolische Kirche ist sozusagen Staatskirche (wie in Russland) – wie Demonstrationen in Yerevan während unseres Besuchs zeigten, ist dies nicht unproblematisch und nicht umunstritten. Wird es hier künftig zu einer deutlicheren Trennung kommen? Ein Besuch bei der Minderheit der Armenisch Katholischen Kirche zeigt, dass es auch wesentlich bescheidener geht …

Die Klöster Armeniens waren viele Jahrhunderte die Kulturträger – eine Reihe gehört heute zum UNESCO-Weltkuturerbe. Am malerischsten gelegen: Chor Virap, das Kloster mit dem Ararat im Hintergrund. Hier soll einst Gregor der Erleuchter eingekerkert gewesen sein, bevor er den zum Schwein mutierten König heilte und das Christentum im Königreich etablierte. Die Klöster liegen – wie bei den Zisterziensern – meist abgelegen. Da gibt es das Höhlenkloster Geghard, in dem lange Jahre die Heilige Lanze aufbewahrt wurde. Es gibt Noravank, Bestattungsstätte eines der großen Adelsgeschlechter, malerisch zwischen senkrechten Felsen gelegen. Und Ort für eine kleine Mutprobe: eine schmale Treppe an der Fassade führt in die Oberkirche. Und überall: Kreuzsteine. Sie sind typisch für Armenien und platzieren rund um das zentrale Kreuz Blumenmuster oder Szenen aus der Bibel. Die schönsten Beispiele finden sich am Sevan-See und in Haghpat im Norden. Die Kirchen sind meist dunkel, nicht zuletzt dank der zahlreichen Kerzen – auch wir stellen einige dazu und freuen uns über den Reisesegen, den unser Guide spricht. Dann lernen wir etwas über die besondere Rolle der Gawits, der Vorhallen der Kirchen, die besonders eindrucksvoll ausgestaltet werden.

Die Landschaften Armeniens sind erstaunlich vielfältig. Da gibt es die breite, fruchtbare Ararat-Ebene – dort sind gerade die Aprikosen reif, ein Genuss, der bereits beim reichhaltigen Frühstück beginnt. Die Aprikosen sollen das Orange in der Staatsflagge Armeniens beigesteuert haben. Ein Tal weiter, bereits viel gebirgiger, kommen wir in eine der Weingegenden Armeniens: Areni. Und es gibt nicht nur den Ararat, sondern auch den Aragats, ein wenig niedriger, in Armenien gelegen, befinden sich an seinen Hängen Almwiesen, die gerade in einem Farbrausch erblühen. Kräutersammler hätten hier ein weites Betätigungsfeld. Wie wir dann erfahren ist dies das Gelände einer der armenischen Minderheiten, der Yessiden – viele dieses Volks sind vom Irak nach hier geflohen… Der Sevansee weiter im Osten ist einer der größten Hochgebirgsseen – er leitet über in die bewaldete Region der „armenischen Schweiz“, des kleinen Kaukasus, der wirklich ein wenig an unser Nachbarland erinnert. Grenzland zum Nachbarn Georgien, mit dem Armenien wenig Probleme hat – die Grenze ist offen, ist sozusagen Armeniens Tor zur Welt und – wichtig – Versorgungsroute aus Russland.
Wir haben die Tage in Armenien genossen – das hat nicht zuletzt an dem angenehmen Hotel gelegen, von dem aus man am Abend noch den Weg zur nahen Oper oder zum Platz der Republik nehmen konnte. Mit vielen kleinen Restaurants und Bars für einen abschliessenen Absacker. Die Küche erwies sich – nicht zuletzt dank des guten Gespürs unserer Reiseleiterin – als sehr vielfältig und empfehlenswert. Eine Vorspeisenvielfalt gehört dabei genauso dazu wie armenischer Wein – und als Digestiv ein Maulbeerschnaps oder ein armenischer Cognac, den wir auch bei der bekanntesten Brennerei des Landes, Ararat, degustieren konnten.
Wir hatten viele Gesprächspartner, aus Kirche und Politik, aber auch die ganz normalen Menschen, die uns ihr Land, seine Traditionen, seine gegenwärtige Situation, auch seine Religiosität näher gebracht haben. Es war aber auch eine gute Reisegruppe, die sich da zusammen gefunden hatte, um Armenien und Georgien kennenzulernen. Und die mit Begeisterung dabei war. Es war einfach schön – und wird sich hoffentlich bald wiederholen lassen: mit neuen Eindrücken, weiteren Gesprächspartnern in einem Land, das sich hoffentlich seine Träume der „samtenen“ Revolution erfüllt.
Die nächste Reise nach Armenien, Georgien und Kiew findet vom 4. bis 15. Mai 2019 statt.